Fünf Bücher – Fünf Anfänge

Im Folgenden nicht mehr als die ersten Zeilen aus insgesamt fünf Werken.

Princeton, New Jersey, 18. April 1955. Ein sonniger Montagmorgen. Im Krankenhaus des Universitätsstädtchens erscheint der Pathologe Thomas Harvey zum Dienst. Auf dem Seziertisch im Obduktionsraum findet er einen Toten vor, wie ihn ein Arzt nur einmal im Leben zu Gesicht bekommt. Zunächst verhält sich der Zweiundvierzigjährige wie an jedem Arbeitstag. Er nimmt das klinikeigene Formular zur Hand und trägt die erforderlichen Daten in die dafür vorgesehenen Kästchen ein. (Jürgen Neffe: Einstein. Eine Biographie (erschienen 2005; gelesen: 2006)

Auf dem großen Passagierdampfer, der mittennachts von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur deck-show spielte. (Stefan Zweig: Schachnovelle; erschienen 1942; gelesen: 2020)

Es war Ende Oktober 1958 auf einer Tagung der "Gruppe 47" in der Ortschaft Großholzleute im Allgäu. Von den hier versammelten Schriftstellern kannte ich nur wenige – kein Wunder, denn ich lebte erst seit drei Monaten wieder in dem Land, aus dem mich die deutschen Behörden im Herbst 1938 deportiert hatten. Jedenfalls fühlte ich mich bei dieser Tagung isoliert; und so war es mir nicht unrecht, daß in der Mittagspause ein jüngerer deutscher Autor, mit dem ich mich im vergangenen Frühjahr in Warschau unterhalten hatte, auf mich zukam. (Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben; erschienen 2000; gelesen: 2004)

MIDWAY THROUGH the twentieth century, two unusual new molecules, organic compounds with a striking family resemblance, exploded upon the West. In time, they would change the course of social, political, and cultural history, as well as the personal histories of the millions of people who would eventually introduce them to their brains. As it happened, the arrival of these disruptive chemistries coincided with another world historical explosion – that of the atomic bomb. (Michael Pollan: HOW TO CHANGE YOUR MIND; erschienen 2018; gelesen: 2019)

Jedem Autor, vermute ich mal, schwebt eine Situation vor, in der Leser seines Werks von der Lektüre desselben profitieren könnten. Ich denke dabei an den Kaffeeautomaten im Büro, vor dem Mitarbeiter Ansichten und Tratsch miteinander austauschen. Meine Hoffnung ist, dass ich den Wortschatz bereichere, den Menschen benutzen, wenn sie sich über Urteile und Entscheidungen anderer, die neue Geschäftsstrategie ihres Unternehmens oder die Anlageentscheidung ihres Kollegen unterhalten. (Daniel Kahnemann: SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN.; erschienen 2011; gelesen: 2015)

Ein Roman, ein deutsches und ein amerikanisches Sachbuch, eine Biografie sowie eine Autobiografie.
Fünf Bücher. Fünf Mal nur die ersten Zeilen von Werken, die ich im Übrigen persönlich alle sehr empfehlen kann.

Und was soll das? Nur den unmittelbaren Anfang zu zitieren?
Ich habe keinen besonderen Grund. Ich wollte es einfach mal ausprobieren. Und mich fragen, was diese Zeilen in mir selbst auslösen. Oder aber bei Personen, die diese Bücher noch nicht kennen. Was empfinden sie? Interesse am Weiterlesen? Spannung? Inspiration? Oder Indifferenz? Langweile? Desinteresse?

Auch eine Frage, die ich mir selbst stelle: War es wohl allen Autoren wichtig, schon mit den ersten Zeilen ihre Leser zu greifen und zum Kauf zu animieren? Oder waren sie selbstbewusst bzw. dem Markt gegenüber ignorant genug und haben den Anfang einfach Anfang sein lassen?

Wenn ich als Beispiel das Buch von Kahnemann nehme: Für meinen Geschmack der langweiligste und sprödeste Beginn. Und zudem noch dieser egoistische Ansatz. Aber: Das Buch selbst hatte für mich den allergrößten Wert. Gut also, dass ich damals trotzdem weitergelesen habe.

Vielleicht will ich durch die Auswahl der Bücher auch etwas über mich selbst herausfinden? Wieso gerade diese fünf? Wieso nur die ersten Wörter? Und wieso nur einen Roman?

Eventuell ist das ja auch für Sie, den Leser, eine Anregung, das selbst mal zu probieren: Also einige wichtige Bücher aus Ihrem Leben zu wählen. Aber nur ersten Zeilen. Und dann mal schauen was passiert.