Majuskel-Was?! Ok, ich geb’s zu. Hab‘ beide Wörter nachgeschlagen. Ich wollte besser klingende Begriffe in der Überschrift nutzen als "Wörter in Großbuchstaben" und "Ausrufezeichen". Um die beiden geht‘s also.
Und warum? Beides sind für mich ganz schlimme Zustände im gängigen Schriftbild, vor allem im Internet. UND! DAS! REGT! MICH! AUF!
Beides wird benutzt, von scheinbar ganz normalen Leuten, die mit Massen an Großbuchstaben und Ausrufezeichen kommunizieren, kommentieren, Stimmungen verbreiten, schimpfen und pöbeln. Oder anders gesagt: Die damit vor allem ihre raus-gerotzte Meinung unterstreichen wollen! Und deren Gebrüll auch selten mit "nur" einem, sondern mit vier oder fünf Ausrufungszeichen enden. VIER ODER FÜNF!!! Dabei ist selbst ein "!" doch meistens schon das eine zu viel. Manoman …
Was soll dieser Schreib-"Stil"?
Die Leute scheinen wütender zu sein als früher. Oder aggressiver? Fühlen sich in ihrer Haut angegriffen? In der Privatsphäre bedroht? Von Gegnern umzingelt? Dem Untergang geweiht? Alles auf einmal?
Auf jeden Fall schreiben heute MEHR Menschen als früher, also im Sinne der Tätigkeit "Schreiben". Es wird technisch gesehen von viel mehr Personen viel mehr publiziert. Klingt ja an sich wie eine gute Sache. Aber: Das Anwendungsgebiet dieser "Schriften" ist eher eindimensional. Nicht Sachverhalte werden beschrieben, Gedichte verfasst oder Wissenswertes vertreten, sondern: Es geht um Meinungen. Genauer: Gegen-Meinungen. Noch genauer: GLASKLARE Gegen-Meinungen.
Glasklare Meinungen? Ausgerechnet heute? In einer Zeit, die immer dichter wirkt, viel komplexer als früher, weil technikbedingt die Welt immer enger zusammenrückt? Ausgerechnet jetzt Klarheit zu finden, zu haben und zu vertreten erscheint mutig, oder? Aber für MUT braucht der Mensch nicht selten WUT. Die scheint wohl ausreichend vorhanden. Stichwort: WUTbürger.
Zurück zur Majuskelschrift und den Exklamationszeichen …
Der gemeine Meinungs-Schreiber von heute möchte seiner Zielgruppe ja (lieber?) nicht persönlich gegenüber treten, braucht also eine Formatierung, die Klarheit unterstreicht. Um also ja keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Meinung aufkommen zu lassen. Dieser Stil ist, jawohl, das Ausrufezeichen und so viele Wörter wie möglich in Großbuchstaben. Damit der Leser ein für alle Mal versteht, wie und wo der Hase läuft. Punkt! Äh, Ausrufezeichen!
Besser noch: Nur der Schreiber selbst weiß um die Wahrheit, also um die einzige Wahrheit und alle anderen sind entweder dumm oder lassen sich von anderen für dumm verkaufen (Verschwörungen lassen grüßen). Die "Anderen" liegen also falsch, VÖLLIG falsch und müssen an jeder Stelle (nur verbal?) bekämpft werden. Exklamation, Exklamation, Exklamation. Puh, wie anstrengend …
War das schon immer so?
Ganz früher hatte ich mal einen Freund – ein Hüne von Kerl, gut erzogen, aber immer mit (zu) großer Lust am Diskutieren. Wenn er mal rein aus Prinzip seine Meinung durchsetzen wollte, kam er näher, fast Kopf an Kopf, machte sich NOCH größer und sprach einfach LAUTER. Im wahrste Sinne durchdringend. Hatte ich dann einen schwachen Tag, oder einfach keine Lust, wurden seine Argumente dadurch tatsächlich "besser". Denn die Diskussion war beendet, ich hatte meine Ruhe aber wir beide waren keinen Schritt weiter.
Was will ich damit sagen? "Argumentieren by Lautstärke" gab‘s schon immer. Früher aber eher "Face to Face". Und keinesfalls so allgegenwärtig wie heute, also von "Tastatur to Tastatur".
Das Internet bietet tausendfach mehr Möglichkeiten, die eigene Meinung herauszuBLÖKEN. Und die nutzen viele. Ziemlich sicher ZU viele. Die Bildung der inzwischen allseits bekannten Meinungs-Blasen und das damit mehr und mehr um sich greifende "Wir gegen die" hat zu einer zunehmend lauteren und gewalttätigen Form der Kommunikation geführt.
Genau. Vor allem LAUT. Wenn ich Sätze lese, an mich gerichtet, die am Ende ein oder mehr Ausrufungszeichen haben, fühle ich mich angeschrien. Nach dem Motto: IST so, ich SCHREI nämlich!
Natürlich gilt das nicht immer. Ein netter Kontext, ein Smiley an der richtigen Stelle oder offensichtliche Ironie des Absenders, stellen den Ton sofort leiser und die Aggressivität ab. In den eher unpersönlichen Foren des Internets ist aber dieser Schreib-Stil genauso gemeint: Laut und richtig aggressiv.
Die Älteren von Ihnen: Stellen Sie sich mal kurz vor, früher, zu Zeiten der Schreibmaschine, hätte der Tipper ständig in Versalien (ein anderes, schönes Wort für Großbuchstaben) geschrieben. Oh Gott, wäre das mühsam gewesen. Und vor allem langsam. Aber gut, Wut sorgt ja auch für Kraft und Ausdauer.
Die Schreiber sind also böse. Meistens auf alle und alles. Erreichen sie denn ihr Ziel?
Ihr Ziel? Dass die Leser ihre Meinung ändern? Wohl eher selten. Oder lassen Sie sich gerne anbrüllen? Und sagen dann: "Stimmt, Du hast Recht. Danke für die neue Perspektive, die Du mir gerade so schön an den Kopf geworfen hast!" Nein, die Hauptsache scheint zu sein, dass die eigene Filterblase am Ende Beifall klatscht!
Weitere Risiken und Nebenwirkungen?
Ganz klar: Rechtschreibfehler ohne Ende!
Also wenn ich auf dem Tennisplatz vor Wut brülle (passiert schon MAL), ist das selten druckreif und die Grammatik gerät schon mal durcheinander. Aber ICH brülle halt NUR auf den Platz. Ist auch nicht immer schön, aber eher zu ertragen, als wenn die ganzen Internet-Prolls in ihren Posts sämtliche Fehler fabrizieren, die seit der Mittelstufe eigentlich verboten gehören!
Gibt es ein Gegenmittel?
IMMER! Mit gleicher Münze heimzahlen. Also NOCH LAUTER schreiben!
Nein, Quatsch. Was soll das auch bringen?! Was aber immer geht: VORBILD sein. Sachlich schreiben. Sachlich antworten. Ohne Schnörkel. Mit einem kleinen, friedlichen Punkt am Ende des Satzes. Ein guter Satz hat nämlich KEIN Ausrufezeichen nötig, denn räumlich gesehen ist der Leser immer gleich nah am Text. Kein Grund also laut zu rufen.
Sachlich im Ton bleiben. Freundlichkeit zeigen. Auch mal die Meinung des anderen aufgreifen und im positiven Sinne zur Disposition stellen. Die andere Seite nicht als Gegner wahrnehmen, sondern als Gesprächs-PARTNER. Denn die Welt ist bestimmt nicht schlechter dran, wenn zwei Menschen auf Augenhöhe kommunizieren, egal ob sie unterschiedlicher Meinung sind.
Was wünsch ich mir?
Wenn alle schreien, versteht keiner mehr was. Zu erleben in jeder Talkshow. Jeden Tag. Ergo: Empathie wäre toll. Sich in den anderen hineinversetzen, wie dieser das Gesagte, Geschriebene und anderweitig Mitgeteilte aufnimmt. Bzw. wie dieser es VERMUTLICH aufnehmen KÖNNTE. Also mit einer gesunden Portion Bescheidenheit und Zurückhaltung. Und dann noch mal nachdenken: Soll ich das so schreiben? Ist mein Punkt verständlich formuliert? Kommen zu viele meiner Emotionen durch? Und ganz verrückt: Vielleicht den Text noch gar nicht abschicken, später noch mal drüber lesen und erst DANN abschicken. Kann manchmal Wunder bewirken. Denn "Zeit lassen" ist fast immer ein guter Ratgeber. Außer vielleicht in der Leichtathletik.
Zum Schluss einige Minuskeln …
… ein friedlicher, leiser ton ist nicht mit schwäche zu verwechseln. sondern mit stärke. nur die substanz der eigenen worte zählt, selbst wenn diese ausnahmsweise komplett klein geschrieben sind.
Sind es dann am Ende die richtigen Worte, passend zum Empfänger, respektvoll im Ton und mit der nötigen Offenheit einer anderen Meinung gegenüber, kann die Kommunikation starten. Und damit auch wirken. Die eigene Meinung steht souverän im Raum und wird vielleicht sogar konstruktiv aufgegriffen. Dann war sie auch nicht umsonst und hat eben nicht nur die eine Funktion: Das eigene EGO zu nähren.