Spekulieren & Mutmaßen

Ich begegne dem immer und immer wieder, leider übrigens auch bei mir selbst: Dass im zwischenmenschlichen Bereich die Absichten, Einstellungen oder Motive einer anderen Person nicht gewusst, sondern angenommen werden.

Es wird also spekuliert, interpretiert, geahnt und gemutmaßt, was dieser oder jener beabsichtigt bzw. warum er das eine tut und das andere lässt; oder dass hinter einer Handlung in Wirklichkeit etwas ganz anders steckt. Dass Aussagen doch mit Sicherheit nicht so gemeint sind, et cetera, et cetera.

Ich schreibe übrigens bewusst geahnt oder gemutmaßt aber eben nicht unterstellt. Letzteres ist mir zu negativ konnotiert, denn es geht mir hier nicht um eine Bewertung der Annahmen.

Und jetzt mal Hand aufs Herz: Wie oft schon waren im Nachhinein die eigenen Interpretationen falsch?

Es gibt natürlich viele, die selbst gar nicht bemerken, wenn sie wieder einmal wild spekulieren. Also das Gegenteil von achtsamer Kommunikation. Was die Sache nicht besser macht.

Für den eher seltenen Fall, dass eine zuvor getätigte Meinung zu einem späteren Zeitpunkt als unwahr offen zutage tritt, sollte die "Meinenden" diese Erkenntnis auch bewusst annehmen. Zu oft beobachte ich aber das Gegenteil: Der unrichtige Sachverhalt ist diesen gar nicht mehr geläufig, folglich stören sie sich auch nicht an den Widersprüchen, die sich (eigentlich) regelmäßig auftun.

Ist das dann ein absichtlicher Verdrängungsmechanismus? Um sich nicht mit den eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzen zu müssen? Oder ist "unschuldige" Unachtsamkeit der Grund? Oder doch Faulheit? Einfalt? Gewohnheit? Feigheit?

Welche Gründe auch immer dahinterstecken: Der Lerneffekt daraus ist leider Null.

Wer sich in Zukunft also mal selbst dabei erwischt, sich über das Motiv eines Bekannten wieder nur eigene Gedanken zu machen: Wie wäre es denn mit der laut gestellten Frage, ob dieses Motiv denn eigentlich stimmt? Die andere Person könnte darauf irritiert reagieren, vielleicht aber auch positiv überrascht sein. Schließlich nimmt man sie offensichtlich so ernst, dass man lieber mal nachfragt.

Auch Politikern oder anderen Personen des öffentlichen, medialen Lebens wird ja gerne alles Mögliche unterstellt. Klar, hier fehlt der direkte Kontakt mit ihnen, aber es wäre ja schon ein Fortschritt, sich zumindest selbst zu hinterfragen, ob die eigene Annahme vielleicht etwas vorschnell war?

Das Gleiche gilt auch für den Social Media-Kontext:
Man muss bei seinen "Freunden" nicht gleich kritisch ermitteln, ob es ihr Leben aktuell tatsächlich so gut mit ihnen meint, wie es die perfekt inszenierten Selfies suggerieren. In der Regel reicht schon die innere Bewusstmachung, dass Facebook, Instagram & Co. überdreht-positive Motive systembedingt fördert und daher kaum ein Mensch etwas nur Gewöhnliches oder Durchschnittliches postet. Neid oder Missgunst sollte sich hier also jeder sparen.

Nicht wenige bemühen sich inzwischen darum, mit Beiträgen aus ihrem vielleicht auch mal profanen Leben wieder etwas mehr Realismus und auch Nahbarkeit in die Netzwerke zu bekommen. Nahbarkeit ist es ja schließlich auch, was – um wieder zum Anfang zu kommen – falschen Mutmaßungen oder Annahmen den Boden entzieht.