Ein hässlicher Pinsel

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich endlich wieder einen Grund, meiner alten Heimat Berlin einen Besuch abzustatten. Ausnahmsweise nicht (nur) zum Spaß. Warum? Weil ich für zumindest zwei Tage eine berufliche Agenda hatte. Und Spaß & Agenda widersprechen sich – zumindest für mich. Ist so.

Ein Taxi bringt mich zum Kölner Hauptbahnhof, der Fahrer reicht mir allen Ernstes mitten im fahrenden Einparkmanöver die Quittung nach hinten – noch vor der Betätigung des Taxameters aber immerhin nach der Nennung meines Trinkgeldes. Na, so kanns weitergehen. So schnell.

Der Bahnhof ist voll, wie immer. Aber "wie immer" stimmt auch wieder nicht. Dafür begrüßen mich zu viele blau-gelbe Schilder, die den Kriegsfliehenden aus der Ukraine Orientierung und ein Gefühl des Ankommens vermitteln sollen. Schwups, sollte ich den Krieg kurz vergessen haben, da ist er wieder. Traurig.

Mit Koffer, Laptoptasche und Cappuccino rolle, nein, gehe, nein stolper ich die Rolltreppe zum Gleis hoch. Rollen tut hier nämlich nix – technischer Defekt – und oben übersehe ich die letzte Stufe. Der Kaffee verfehlt meine (weißen) Schuhe nur knapp und ich will schon schimpfen, da holt mich das nächste Schild mit Fluchtthematik emotional wieder runter. Und was sind schon dreckige Schuhe. Nichts.

Kleine Zwischengeschichte im ICE: Der Zug rollt los, ich sitz am Gang, alleine. Es erscheint der Typ für den Fensterplatz, der noch schnell seinen fetten Koffer in die Ablage über mir stapelt. Allerdings so, dass das Teil am Ende mittig und lose auf einem zentimeterhohen Steg ruht, der das Regal alle paar Meter in Segmente unterteilt. Er bemerkt es nicht, ich schon, sage aber nichts. Blöd.

Er direkt aufs Klo, da geht sein Handy in der Jacke los. Klingelton: Wirklich extra kreischende Rockmusik. Alle, auch die im hintersten Zugabteil gucken mich böse an, es ist aber ja nicht meins, was soll ich machen. Nichts. Es kracht und röhrt, dann ist endlich Stille. Nervig.

Nur Sekunden später knallt der besagte Koffer in der ersten Kurve von oben aus der Ablage mit Wucht auf meinen linken Arm, landet von da wie ferngesteuert im Gang und bleibt auf allen vier Rädern stehen. Wieder genieße ich in großer Runde ungefragte Aufmerksamkeit. Ich widme mich meinem Arm, den der Schlag zwar rot färbt – aber überlebt. Völlig irritiert packe ich den Koffer zurück nach oben, dieses Mal aber richtig und setze mich wieder. Im tatsächlich gleichen Moment steht mein Sitznachbar neben mir, deutet zum Fensterplatz und will rein. Weder den Sound seines Rockgedudels noch den Koffersturz hat er mitbekommen. Schade auch. Fünf Minuten später schläft er tief und fest. Ich nicht. Verrückt.

Ankunft am Berliner Hauptbahnhof. War die Ukraine in Köln schon sehr zugegen, ist sie hier nun omnipräsent. Überall Schilder, überall Freiwillige und vor allem: Überall Ukrainer. Zwei Gefühle entstehen: Freude über so viel Aufwand und Hilfsbereitschaft. Aber auch tiefe Erschütterung über einen Krieg, dessen unfassbare Tragik und Sinnlosigkeit wirklich alles überragt. Für mich geht’s weiter zum nächsten Bahnhof. Genauer: Südkreuz.

In Berlin nur ein Bahnhof unter vielen wäre er in jeder normalen Großstadt der klobige Mittelpunkt. Dort angekommen funktionieren aber gleich drei Rolltreppen hintereinander nicht. »Ditt is Bärlin«, denk ich gleich. Doch halt! Kein Berlin-Bashing mit mir. Aber gleich drei auf einen Streich? Naja.

Ich brauche nicht lange, da weiß ich wieder, was die Stadt für mich ausmacht: Sie lebt wie eh und je. Die volle Dröhnung, überall. Arm, reich, chaotisch, einfach unglaublich durcheinander. "Einmal Alles" ist hier irgendwie Lebensgefühl und Be-Drohung zugleich. Denn Alles ist halt in der Regel einfach zu viel. Was für eine Erkenntnis. Genau.

Auch in den Kneipen sind irgendwie Alle. Junge und Alte, schicke und schäbige und fast alle rauchen. Rauchen? War da nicht was? Rauchverbot? Ach, egal. Bebildert und zugemöbelt mit linksrevolutionären Motiven, Zeichen und Codes – von Che Guevara über Rosa Luxemburg bis Marx, das sind mir die liebsten Läden. Tun mega antikapitalistisch, wollen aber dennoch nur Geld verdienen. Klar.

Köln hat nur den Dom, alles andere ist hässlich. Heißt es oft. Aber Berlin? Hat in Sachen Hässlichkeit auf jeden Fall ebenso einiges zu bieten. Nur ein Beispiel, weil ich meine Zelte dieses Mal in Steglitz aufgeschlagen habe: Der sogenannte "Bierpinsel"! Wer einmal vor diesem Ungetüm steht, weiß wovon ich spreche. So etwas überhaupt zu entwerfen und zu bauen?! Und dieses Ding dann ganz berlin-like anschließend jahre- und jahrzehntelang ohne konkrete Nutzung mitten im Bezirkszentrum im wörtlichen Sinne rumstehen zu lassen … ja, ditt is es dann wirklich. Bärlin!

Zurück in der Bahn nach Hause: Nichts passiert: Kein fallender Koffer, kein schnarchender Nachbar, kein plärrendes Handy und der Zug ist noch nicht mal zu spät. Aber kaum ausgestiegen, scheitern meine Augen wieder am Lesen ukrainischer Hinweistafeln. Und mir fällt auf. Ich bin hin und zurück gefahren. Ganz trivial natürlich, dieser Tage dennoch für viele ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. Leisten dürfen! Leider.

Warschau, Bratislava, Prag oder Berlin erreichen gerade täglich Zehntausende, vor allem Frauen und Kinder. Die meisten werden überwiegend freundlich empfangen. Sogar mit kostenlosen Fahrscheinen für die Weiterfahrt. Aber eben nicht für die Rückfahrt. Weil ihre Häuser, Dörfer, Städte oder ganze Regionen verwüstet wurden oder es noch werden. Ja, werden!

Seit den 80igern habe ich einen Krieg nicht mehr so unmittelbar empfunden. Dabei war es damals "nur" der kalte Krieg, als ich schon als Kind genau wusste: Wie weit weg lebe ich von Bonn? Weniger als 40 Kilometer? Dann bin ich im Falle eines Atomschlags sofort tot. Wenn auch knapp. Das war damals Allgemeinwissen. Kaum zu glauben. Ist das trotz aller Parallelen vergleichbar mit dem Schicksal von aktuell Millionen von Ukrainern? Nein.

Was für komische Zeitläufte gerade. Und "komisch" ist schon das absolut falsche Wort. Wann konnte man denn das letzte Mal nach der Tagesschau halbwegs unbeschwert über Gott und vor allem die Welt sinnieren? Lange her. Und trotzdem schreibe ich hier über defekte Rolltreppen, hässliche Bauten oder trottelige Sitznachbarn. Aber ditt isses halt: Das Leben.