Wüstenschiffweisheiten

Eine Kirmes ist schon wirklich oldschool. Schon das Wort klingt irgendwie aus der Zeit gefallen. So un-englisch. Gibt’s dafür nicht einen gängigen Anglizismus? Nope, gibt’s nicht. Zumindest ich habe noch niemanden gehört, der von einer "fun fair" oder ähnlichem spricht, wenn es das obligatorische Feuerwerk zu bewundert gilt (oohhh! uhhhh! ahhhhh!).

Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, darauf angesprochen, würde sich der ein oder andere meiner englisch-verliebten Freunde bestimmt über kurz oder lang ein "besser" klingendes Wort für den Kirtag (so heißt es in Österreich) ausdenken und ab sofort wie selbstverständlich benutzen.

Weniger um den Namen als um eine traditionell klassische Aktivität geht es mir an dieser Stelle.

Neben Wurst-, Pommes- und Süßkrambuden, Los-Ständen oder den diversen kreislaufzerstörenden Fahrgeschäften (mit herrlich wütenden Namen wie "Krake", "Twister", "Zyklon" oder "Tower of Terror") darf zumindest in meinem Universum keine Kirmes ohne Kamel- oder Pferderennen existieren.

Nur Kamele sind Kamele

Meine kleine Heimatstadt war schon immer eine Stätte von Kamelen gewesen, andere Tiere kenne ich nur von auswärtigen Kirmessen (gewagter Plural, ich weiß), so dass ich stets ein wenig gefremdelt habe, wenn da plötzlich zwölf Pferde drauf warteten, von Besuchern mittels einer kleinen, schweren Kugel "angeschoben" zu werden. An dieser Stelle gehe ich (ein wenig überheblich) davon aus, dass 99% aller Leser dieses Kirmeshighlight kennen, d.h. ein konkretes Bild von den gelben, blauen und roten Löchern im Kopf haben, mit denen die Tiere entsprechend einen, zwei oder drei Schritte von rechts nach links (nie anders herum!) getrieben werden. 

Sehr schön! Bereits das Schreiben dieser Zeilen weckt in mir dieses Kribbeln, als wenn ich jetzt gerade am Ort des Geschehens wäre und gebannt auf die obligatorischen Phrasen des Oberkamels (also des Sprechers) warte: "Jetzt wieder anteilnehmen! Es geht’s wieder um die große Auswahl! Kugeln festhalten! Esss geht los!"

Nur große Auswahlen sind wahre Auswahlen

Für die 1% der Unwissenden: Der Sieger kann sich am Ende unter allen herum- und herunterhängenden Riesen-Stofftieren eines aussuchen, und das eben ohne Begrenzung wie es sie lediglich bei der "kleinen Auswahl" gibt. Im letzteren Fall ist die maximale Zahl von zwölf Spielern nicht zustande gekommen, also sind die plüschigen Gewinne etwas kleiner. Wettbewerbe mit weniger als zwölf Teilnehmern gelten allerdings ohnehin als absolute Lustkiller. Ich sage es mal so: Kein Mensch braucht die kleine Auswahl, ein Sieg hat dann keinen Wert, ganz egal wie stark die Konkurrenz auch war.

Wie auch immer. Kündigt ein Ansager also den baldigen Startschuss an, ertönt kurze Momente später ein herrlich schriller Klingelton. Der Moment, in dem die Löcher scharf gestellt werden. Unerfahrene Kirmesbesucher verpassen diesen Moment ganz gerne, weil ihr hektisch ausgeführter letzter Übungswurf unerwartet lange unterwegs ist, die Kugel also ausgerechnet jetzt nicht in ein Loch fällt (oder aber ins seitliche "Aus"), sondern von einer Öffnung in die nächste "schwingt". Das Ganze dauert nun eine gefühlte Ewigkeit und so wird – leider, leider – der rechtzeitige Spielstart direkt mal verpasst. Amateure halt!

Über den optimalen Wurf, ob mit einer Art Rückhand oder mit der Technik wie beim Boccia lasse ich mich nicht aus, ebenso wenig darüber, welche Löcher spieltaktisch die erfolgversprechendsten sind. Mein nächster Kirmesbesuch kommt bestimmt und wer weiß, wann und gegen wen ich noch mal spielen werde (#ImmerNochEhrgeizig).

Erfolgreich nur mit Tunnelblick und Fokus

Derartige Erfolgsfaktoren definiert aber sowieso jeder anders. Was ich jedoch für universell halte ist Folgendes: Der Tunnelblick und Fokus auf das eigene Spielfeld, d.h. auf den sauber ausgeführten Wurf, der nüchterne Blick, welches Loch getroffen wird (oder auch nicht) und das unaufgeregte Warten auf die zurückrollende Kugel. Also eben NICHT das ständig nervöse Schauen auf die Rennbahn, um zu prüfen, ob das eigene Vieh denn auch tatsächlich vorwärts kommt. Ist es also nach dem Treffer ins Gelbe auch wirklich deren zwei Schritte gelaufen? Oder wenn man – im aussichtsreichen Mittelfeld liegend – versucht zu er-schielen, ob die führenden Spieler in dem Moment schon wieder ins rote getroffen haben oder (hoffentlich, hoffentlich) jetzt endlich mal verfehlen!

Warum bringt das nichts? Zum einen, weil man außer beim unmittelbaren Nachbarn die übrigen Spielfelder gar nicht einsehen kann. Der suchende Blick ist also völlig unnötig, unnütz und lenkt nur ab. Zum anderen, weil so die wichtige ruhige Hand verloren geht, was sich zuverlässig in Schwierigkeiten beim schnellen Aufnehmen der Kugel und dann vor allem in krummen Würfen niederschlägt. Die Hand-Augen-Koordination mag es nun mal nicht, wenn plötzlich der Blick auf etwas anderes als das eigene Spielfeld geweitet wird. Und bereits leicht schiefe Wurfbahnen lassen selten siegreiche Kamelrennen zu. Und wenn doch: Dann war es Zufall und Glück. Und wer will das schon?!

Bei sich und den Kamelen bleiben

Ich finde, ein Stück weit taugen die Erfahrungen aus dem Kamelrennen durchaus als Lehren fürs Leben. Quasi als Wüstenschiff-Transfer zu nützlichen Weisheiten. Beispiel: Wird es hektisch und unübersichtlich, sollte man trotzdem versuchen, "bei sich" zu bleiben. Also nicht ständig auf die Konkurrenten schielen und sich zumindest nicht permanent bemühen, das komplette Feld zu überblicken. Der konzentrierte Fokus erfordert eben manchmal das Aushalten von Unsicherheiten und das Vertrauen in die eigene Kompetenz.

Geht’s dann doch hoch her und die eigenen Emotionen überschlagen sich? Dann tief durchatmen und so die innere Ruhe suchen. Manchmal lohnt allein der Versuch. Hektik tut jedenfalls selten gut, führt zuverlässig zu Fehlwürfen, der Frust daraus zu noch mehr Hektik und fertig ist der Teufelskreis. Ergo: Ruhe bewahren. Nach dem Spiel ist noch genug Zeit sich ordentlich aufzuregen. Ich weiß wovon ich spreche!

Das Pareto-Kamel

Und jetzt doch noch ein Wort zur Spieltaktik: Die meisten meiner großen Auswahlen habe ich nicht mit "roten", sondern mit "gelben" Serien gewonnen. Statt also die (unwahrscheinlichen) Dreier-Löcher anzuvisieren, waren die gelben Zweier mein Ziel. Die sind nicht nur wahrscheinlicher zu erreichen, ein Treffer führt durchschnittlich auch zum kürzeren, d.h. schnelleren Weg zurück in die Hand des Werfers. Bedeutet: Solide, zweitbeste Lösungen sind nicht selten die besseren. Übersetzt ins Business-Sprech reden wir hier demnach vom berühmten 80%- oder Pareto-Prinzip.

Kamelrennen als Lebenshilfe? Zu weit hergeholt? Kann sein. Und ganz ehrlich, ich bin es sowieso gewohnt, dass Emotionen nicht nur bei diesem Spiel versuchen, meinen "inneren Kontrollraum" zu kapern. Der Kampf zwischen Ratio und Leidenschaft ist mir nicht wirklich neu. Wobei zu viel Vernunft auch ziemlich öde sein kann, von daher mein bescheidener Aufruf: Auf der nächsten Kirmes auf jeden Fall zum Kamelrennen und zocken! Ob dann mit totaler Hektik, Chaostaktik oder aber kontrollierter Souveränität. Hauptsache viel Spaß dabei!