Ver-Wertung

Ver-wertet? Genau. Schreibe ich zum Beispiel einem Menschen den Wert "große Arroganz" zu, die Person ist das aber gar nicht, habe ich mich "ver-wertet". Mein Urteil war dann voreilig, quasi eine Vor-Urteilung. 

Das kennt jeder: Wir sehen eine Person und werten bzw. urteilen aufgrund des Aussehens, der Kleidung, der Gestik, der Mimik oder auch einer Tätigkeit, die diese gerade ausführt. Die Interpretation basiert auf dem augenscheinlich Sichtbaren, Oberflächlichen. Passiert jedem jeden Tag, mir auch, meistens unbewusst, oft aber auch bewusst.

Frage in die Runde: Wie oft stimmt denn das Urteil?

Meine Meinung: Ist den meisten völlig egal, weil die eigene Aufmerksamkeit schon längst wieder weitergewandert ist. Problem: Jedes Urteil bleibt im Hirn irgendwie hängen. Haftet sich quasi an die anderen unhinterfragten Urteile über andere Menschen oder andere Dinge, andere Situationen.

Jeder würde wohl zustimmen, dass kein Mensch eine Vor-Urteilung verdient hat. Oder? Beim ersten Anflug eines Urteils sollte jeder zu sich selbst "Stopp" sagen. Und sich dann fragen: Wie komme ich denn da drauf? Könnte mein Urteil vielleicht falsch sein?

Allein diese Frage würde eine gesunde Distanz zum Vor-Urteil schaffen. Alles was dann an Gedanken folgen würde, wäre auf jeden Fall solider als das erste Urteil.

Aber: Den meisten fällt der eigene innere Prozess gar nicht auf. Zum Beispiel, weil sie den ver-urteilten Menschen nie wieder sehen. Oder weil ihnen einfach nie jemand widerspricht.

Sind dann solche Vor-Urteile nicht auch einfach egal? Tun doch keinem weh?

Finde ich nicht.

Weil es allein in meinem Umfeld ungezählte Beispiele gibt, wie andere Menschen abqualifiziert werden. Oder überhaupt qualifiziert werden, positiv wie negativ. Ohne jedes Hinterfragen oder Reflexion. Einfach so.

Entwickeln sich nicht genauso Vorurteile gegenüber Fremdem oder Neuem? Zementiert sich nicht (auch) so ein Weltbild, dass dann irgendwann scheunentor offen wird für populistische, vereinfachte Polemiken von Parteien oder anderen Interessengruppen, die ein solches (zu) schnelles Denken bzw. Nicht-Denken ausnutzen? Weiß ich nicht. Könnte aber sein …

Was ich sagen will:
Ich plädiere für mehr "langsames Denken". So wie es Daniel Kahnemann in seinem Buch "Schnelles Denken, Langsames Denken" beschrieben hat. Ich finde, jeder Mensch (über den geurteilt wird) hat in so einem Fall die langsame, also die gründliche Vorgehensweise verdient. Ich zumindest mache immer öfter andere (auch mich selbst) darauf aufmerksam, eben nicht die gedanklichen (schnellen) Abkürzungen zu gehen. Oder – andere Lösung – man verzichtet gleich ganz auf die Bewertung (von Menschen). Zwingt einen ja keiner … Und nicht-wertend die Welt zu betrachten, würde jedem Achtsamkeits-Trainer Tränen der Freude in die Augen treiben.

Langes P.S.: Noch ein Beispiel vorschnellen Urteilens …
Ich pendel gerade lustig zwischen meinem Orthopäden und Physiotherapeuten. Wegen meiner Meniskus-Operation (auch dazu gibt es hier einen kleinen Blog-Eintrag). Schon drei Mal habe ich der einen Partei (z.B. dem Physio) von einer Aussage der anderen Partei (z.B. des Orthopäden) erzählt. Jedes Mal war die Reaktion: "Diese Meinung ist falsch. Vom dem und dem hat ein Othopäde/ ein Physio doch einfach keine Ahnung!" Punkt! Ganz krass. Ohne Differenzierung. Urteil gefällt. BÄM!

Was heißt das für mich als Patient: Maximale Unsicherheit! Wie kann es über eine medizinische Sache zwei diametral unterschiedliche Aussagen geben?

Abgesehen von diesem Patienten-Dilemma finde ich allerdings: Der einzige Laie in dieser wenig erotischen ménage à trois bin doch: ICH! Das alleine müsste doch beide "achtsamen" Experten dazu bringen, meinen Aussagen eine gesunde Portion Skepsis entgegen zu bringen. Und zumindest mal nachzuhören, ob ich den jeweils anderen vielleicht falsch verstanden habe?! Und selbst wenn nicht, sollte sich die eine Partei mit einem so klaren Urteil zurückhalten. Das könnte man nämlich auch als unprofessionell empfinden, schließlich fehlt für ein klares Urteil über den anderen eine valide Informationsbasis. Die bloße Aussage des Patienten reicht auf jeden Fall NICHT aus.